25.02.2017

 

Unerwartetes von der Nordsee
Vortrag von Dr. Annette Richter

 

 

Nordseeaufenthalte wurden lange Zeit hindurch entweder aus dem Blickwinkel des rein gesundheitlich bedingten Kuraufenthaltes betrachtet oder aber aus dem des „gut bekannten = langweiligen“ Heimaturlaubs. Parallel zueinander haben aber mittlerweile sowohl der generelle „wellness-Aspekt“ als auch das hohe Maß an Sicherheit und Komfort ganz ohne Terrorismus-Ängste Reisen an die Nordsee innerhalb der Bevölkerung enorm aufgewertet. Unabhängig davon jedoch sind Fahrten in sogenannte „gut bekannte“, heimatliche Zonen für Fachwissenschaftler schon immer interessant gewesen, da sich unsere Umwelt in Wahrheit kontinuierlich ändert. Was gestern noch „bekannt“ war, ist schon morgen anders – das merkt nur nicht jeder.
Die alten Griechen formulierten es so: Panta Rei – alles fließt.

Aus dem Blickwinkel von Paläontologen beispielsweise lassen sich Spaziergänge am Nordseestrand vollkommen anders betrachten. Die bis 1980 noch extrem seltenen Messermuscheln sind heute durch eine mittlerweile eingeschleppte amerikanische Art eine Massenerscheinung. Ihre am Spülsaum regelrechte Pflaster bildenden Schalen zu analysieren ist ebenso spannend wie die Analyse der Fußspuren verschiedenster Watt-Vögel im weichen Sand- und Schlickboden. Bessere Beispiele zum Vergleich mit den 140 Millionen Jahre alten Dinosaurierfährten aus der Unterkreide vom Bückeberg und der Rehburger Berge gibt es kaum.

In besonders heißen Sommern lassen sich Prozesse studieren, die ansonsten nur in Wüstengebieten zu beobachten sind. Wer beispielsweise glaubte, dass Fossilfunde von Quallen gar nicht möglich sind, weil diese doch zu fast 99 % aus Wasser bestehen (Menschen: 63 %), wird im Juli am sandigen Nordseestrand eines Besseren belehrt: Angespülte Quallen (Medusen) trocknen innerhalb kürzester Zeit zu einer hauchdünnen, aber erkennbaren „Scheibe“ ein (Abb. 1), die sowohl die konzentrischen Muskulaturringe erkennen läßt als auch die radialen Schrumpfungsrisse vom Verlust des Gewebewassers: ein echte Mumifikation mit hohem Fossilerhaltungspotential! Genauso sehen fossile Medusen aus den Solnhofener Plattenkalken (Jura, 155 Millionen Jahre, Blütezeit der Dinoaurier) oder aber der Ediacara-Fauna aus (Präkambrium, mehr als 550 Millionen Jahre, vor dem großen Durchbruch des hartschaligen Vielzeller-Lebens).


Die erstaunlich gut erhaltenen Flossen fossiler Schwimmsaurier werden unmittelbar nachvollziehbarer, wenn man sich angespülte Schweinswale anschaut: Das äußerst feste Bindegewebe hält die einzelnen Knochen-Elemente straff zusammen. Und betrachtet man die Vielzahl von Seeigelschalen der dünnschaligen sogenannten „Herzseeigel“ im Spülsaum, die doch eigentlich viel zu fragil sind für jedweden Transport am Strand, so erkennt man, warum dies möglich ist: Ihre Schalen sind dünn und so leicht, dass sie auf der Wasseroberfläche zu schwimmen. Aufgrund ihrer schieren Menge wird auch klar, dass das Leben dieser so unbekannten, aber faszinierenden Tiere eine echte „Erfolgsstory“ ist: Ihre Vorfahren vor 160 Millionen sahen noch aus wie die „normalen“ Seeigel, sie weideten Algen auf dem Meeresgrund und hatten viele lange Stacheln – daher stammt die deutsche Bezeichnung „SeeIGEL“. Die Herzseeigel aber tauchten ab – sie eroberten den Untergrund, indem sie ihre Stacheln fast völlig reduzierten und eine grabende Lebensweise annahmen. Mehrere Dezimeter tief im Nordseeboden gibt es praktisch keine Freßfeinde mehr. Der Erfolg gibt den Herzseeigeln recht – sie leben nämlich nicht nur im Nordseeboden, sondern weltweit in allen Flachmeeren. Östlich von Hannover finden wir sogar ureigenste niedersächsische Fossilien dieser mit den Seesternen verwandten Stachelhäutergruppe: In den Mergelgruben von Höver und Misburg stellen die fossilen Herzseeigel der Oberkreide (ca. 80 – 75 Millionen Jahre) echte „Charakterfossilien“ Norddeutschlands dar, für die Fossiliensammler aus ganz Europa eigens anreisen.

 

In besonders warmen Jahren wandern immer wieder neue Organismen ein, die dann nach harten Ausnahme-Wintern – wie beispielsweise 2009 und 2010 – wieder verschwinden. Dazu gehören winzige Einsiedlerkrebschen der Gattung Diogenes ebenso wie die in den 1980ern als Miesmuschel-Konkurrenz so gefürchtete amerikanische Pantoffelschnecke, die es bislang eben nicht geschafft hat, sich in der Nordsee dauerhaft zu etablieren.
Ein aufmerksamer Aufenthalt an der Nordseeküste kann daher ein wunderbarer Spiegel der Erdgeschichte, der Evolution und Ökologie sein und wird niemals langweilig, da jedes Jahr neue Phänomene zu entdecken sind.
Auch die Römer der klassischen Antike hatten hierzu einen klugen Spruch auf Lager:
Mutatio sola perpetua est – einzig die Änderung ist ewig!

 

Dr. Annette Richter

   
© MSE Hannover